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Im Verbundprojekt „JUST X Berlin 3.0“ schafft das Anne Frank Zentrum kreative Lernangebote im Rahmen der antisemitismuskritischen Bildung. Zentral ist das biografische Lernen in Workshops zur Geschichte des Nationalsozialismus, des Holocaust und zur Erinnerungskultur. 2025 arbeitet das Anne Frank Zentrum dafür mit Inhaftierten der Jugendstrafanstalt Berlin zusammen – anlässlich des „Anne Frank Tags“ und im Projekt „Stimmen aus Plötzensee“. Ab 2026 öffnet sich das Projekt für weitere Berliner Justizvollzugsanstalten.

 

Geschichte – ganz nah

„Findet ihr es nicht auch heftig, dass die Gebäude heute weiter als Gefängnis genutzt werden?“, wundert sich ein Workshop-Teilnehmer. Dass die Geschichte des Nationalsozialismus eng mit dem Ort ihrer Haft verknüpft ist, wird Schulklassen der JSA Berlin schon am Namensgeber ihrer Schule bewusst: Helmuth Hübener, der jüngste vom Volksgerichtshof zum Tode Verurteilte, wurde 1942 in Plötzensee hingerichtet. Insgesamt ermordeten die Nationalsozialisten dort über 2.800 Menschen. Teile des damaligen Strafgefängnisses gehören bis heute zur JSA Berlin und zur JVA Plötzensee. Diese räumliche Nähe zur Geschichte adressiert das Anne Frank Zentrum in Workshops: Inhaftierte setzen sich am historischen Ort mit den Biografien Verfolgter auseinander.

Der bundesweite „Anne Frank Tag“ als Aktionstag gegen Antisemitismus erreicht inzwischen bundesweit über 100.000 Schüler*innen – auch in Haftanstalten. Im Sommer 2025 nimmt eine Klasse der Helmuth-Hübener-Schule der JSA Berlin daran teil. In zwei Workshops beschäftigen sich die Jugendlichen zunächst mit der Biografie Anne Franks, um die Geschichte von Antisemitismus und Holocaust kennenzulernen. Anschließend richtet sich der Blick auf die Gegenwart: Gemeinsam mit der Sängerin Kim Seligsohn, Tochter einer Holocaust-Überlebenden, sehen sie ihren Film „Liebe Angst“. Er zeigt, wie die Verfolgungsgeschichte ihre Familie bis heute prägt und thematisiert transgenerationale Traumata. In der anschließenden Diskussion wird deutlich, wie eng Geschichte und Gegenwart verbunden sind. Die anfängliche Skepsis, sich mit Antisemitismus zu beschäftigen, weicht einer großen Offenheit für die Erfahrungen von Kim Seligsohn und ihrer Familie.

Kim Seligsohn gestaltet Erinnerungskultur künstlerisch, etwa mit ihrer gesungenen „Hymne an die Namen“. Sie sagt: „Damit wir einen Umgang mit unserer Vergangenheit finden können, müssen Geschichten weitererzählt und in neue Formen gebracht werden.“ Genau diesen Ansatz verfolgt das Projekt „Stimmen aus Plötzensee“, das sie in der JSA Berlin künstlerisch begleitet.

Wir erzählen weiter

In der Workshop-Reihe „Stimmen aus Plötzensee“ werden Inhaftierte selbst zu Akteuren der Erinnerungskultur. Sie beschäftigen sich mit der Biografie von Max Bindel und erzählen sie in einem Podcast weiter.

Max Bindel wurde 1901 in München in eine jüdische Familie geboren. Seine Ehe mit einer Nichtjüdin machte ihn zur Zielscheibe antisemitischer Diffamierung der Nationalsozialisten.1934 ließ er sich in Berlin taufen. Nachdem er sein Geschäft verlor und ein Ausreiseversuch scheiterte, lebte er im Untergrund. 1941 wurde er verhaftet und im Strafgefängnis Plötzensee inhaftiert. Seitdem gilt er als verschollen. Sein Tod blieb ungeklärt.

Die Teilnehmenden erzählen seine Biografie mit eigenen Worten und setzen sich dabei auch mit ihrem eigenen Gefangensein am gleichen Ort auseinander. Unter künstlerischer Begleitung von Kim Seligsohn vertonen die jungen Inhaftierten Max Bindels Geschichte und seine aus der Haft erhaltenen Gedichte und Zeichnungen. Die Audioaufnahmen werden von der anstaltsinternen Podcast-Gruppe umgesetzt. Ihr Format „Zweidrittel FM“ wird direkt in der JSA produziert.

Ein besonderer Moment ist die Begegnung mit Max Bindels Tochter Irene. 1938 in Berlin geboren, kehrt sie für das Projekt an den Ort zurück, an dem sie ihren Vater als Kind das letzte Mal sah. In der Gefängniskirche der JVA Plötzensee liest sie Inhaftierten und Gästen aus ihrem Buch „Wassermilch und Spitzenwein“ vor. Später begegnen ihr die Teilnehmenden im Podcast-Studio der JSA zu einem Interview. Im direkten Austausch mit der Tochter des Mannes, dessen Biografie sie hörbar machen, erleben die Jugendlichen, wie sehr sie ihr Engagement wertschätzt – und warum es so wichtig ist, die Geschichte der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz weiterzuerzählen.

Die Sonderfolge aus dem Projekt „Stimmen aus Plötzensee“ ist online unter „Zweidrittel FM“ sowie für Inhaftierte über die E-Learning-Plattform elis abrufbar.

  

Die beschriebene Maßnahme wird umgesetzt im Projekt „JUST X Berlin“, einem Verbundprojekt von Violence Prevention Network gGmbH, Denkzeit-Gesellschaft e. V. und Anne Frank Zentrum. Violence Prevention Network bietet Workshops der politischen Bildung, Einzelfallberatungen und Fortbildungen für Fachkräfte zur Prävention und Deradikalisierung im Strafvollzug an. Denkzeit-Gesellschaft führt „Blickwechsel“-Trainings durch und qualifiziert Fachkräfte der Justizvollzugsanstalten rund um die Themen Entwicklungspsychologie und Psychodynamisch Interaktionelle Pädagogik.

 

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Wenn wir heute mit Jugendlichen im Strafvollzug arbeiten, fällt uns auf: Das Alter der Inhaftierten sinkt und gleichzeitig wird die Gewaltkriminalität brutaler. Immer häufiger begegnen wir 15- oder 16-Jährigen, die schon mit massiven Gewalttaten in Erscheinung getreten sind.

Ein unterschätztes, aber zentrales Thema ist der Stellenwert von Drogen im Leben dieser Jugendlichen. Kaum ein Gespräch, in dem nicht Substanzen wie Cannabis, Spice oder härtere Drogen eine Rolle spielen. Für viele sind sie Teil des Alltags, eng verknüpft mit dem eigenen Selbstbild und den Vorbildern aus der Rap-Szene. Wenn die Jugendlichen über ihre Träume sprechen, dann tauchen oft die Namen bekannter Rapper auf – ein Leben zwischen Haftbefehl-Songs, Drogenkonsum und der erdrückenden Erfahrung, keine Perspektive zu haben.

Viele dieser Jugendlichen wachsen in einem Umfeld auf, in dem Kriminalität, Sucht und Gewalt zur Normalität gehören. Die sozialen Rahmenbedingungen wie etwa fehlende familiäre Stabilität, Armut, Schulabbrüche und ein Mangel an positiven Rollenvorbildern verstärken die Anfälligkeit für riskantes Verhalten. Rap-Videos und Social Media tragen dazu bei, ein Bild von Erfolg zu zeichnen, das fast ausschließlich auf Härte, Geld und Statussymbolen beruht. Die Orientierung an dieser Kultur macht es schwer, langfristige Ziele wie eine Arbeit oder eine Ausbildung überhaupt noch als realistische Optionen wahrzunehmen.

Prävention an einem schwierigen Punkt

Diese Lebenswelt macht Prävention besonders herausfordernd. Wer in dieser Kultur der Härte und Abhängigkeit groß wird, muss zunächst erreicht werden, bevor er oder sie über Alternativen nachdenken kann. In unseren Workshops erleben wir immer wieder, dass Jugendliche erst dann ins Gespräch kommen, wenn sie spüren: Hier nimmt sich jemand Zeit, hier geht es nicht nur um Kontrolle, sondern um echtes Interesse. Gleichzeitig zeigt sich: Die Kombination aus Perspektivlosigkeit, Drogenkonsum und Gewalterfahrungen schafft eine besondere Vulnerabilität. In diesem Zustand sind manche Jugendliche empfänglich für extremistische Deutungsangebote, die einfache Antworten liefern und die Ursachen für die eigene Misere nach außen verlagern, anstatt zur Übernahme von Eigenverantwortung zu ermutigen.

Oft ist es die Sprache des Extremismus, in der diese Machtlosigkeit und Schwäche ihren Ausdruck findet. Sie ist dabei nicht die eigentliche Ursache, sondern vielmehr der Rahmen, in dem das eigene Scheitern eine neue Deutung erfährt. Wer sich in diesem Deutungsrahmen bewegt, kann unbewusst zum Mitläufer im Extremismus werden, nicht zuletzt, weil er dort plötzlich Anerkennung und Zugehörigkeit erlebt. Diese Anerkennung möchten viele nicht mehr verlieren, was wiederum Möglichkeiten zur Manipulation eröffnet.

Wichtig ist deshalb, Räume zu schaffen, in denen Jugendliche ihre Erfahrungen teilen dürfen. Mit Methoden wie Biografiearbeit, Diskussionen über Werte und Gesprächen zu Zukunftsvorstellungen entstehen Gelegenheiten, ins Nachdenken zu kommen. Manche beschreiben das später als das erste Mal, dass sie sich bewusst gefragt haben, wie ihr Leben weitergehen würde, wenn alles so bliebe wie bisher. Genau hier brauchen sie ein alternatives Angebot: eines, das Verantwortung stärkt und Selbstwirksamkeit in den Mittelpunkt stellt.

Zwischen Wirkung und Grenzen

Die Rückmeldungen auf unsere Angebote sind durchweg positiv. Viele Jugendliche betonen, wie gut es ihnen tut, über ihre Situation reden zu können und neue Impulse mitzunehmen. Einige berichten sogar, dass sie zum ersten Mal das Gefühl haben, ernst genommen und nicht nur als „Problem“ betrachtet zu werden. Auch die Trainer*innen erleben, dass diese Arbeit sinnvoll ist und etwas bewegt, mal in kleinen Schritten, mal in sehr eindrücklichen Momenten, wenn Jugendliche beginnen, Fragen nach ihrer Zukunft oder ihren Werten zu stellen.

Trotzdem stoßen solche Angebote an Grenzen. Zwölf oder vierzehn Tage reichen nicht aus, um tief verwurzelte Muster, Abhängigkeiten oder alte Loyalitäten zu durchbrechen. Zu groß ist oft der Druck, nach der Entlassung wieder in alte Strukturen zurückzukehren, sei es durch Clique, Familie oder finanzielle Not. Aber die Workshops setzen einen wertvollen Anfang. Es wäre ein Gewinn, wenn diese Impulse durch eine längerfristige Begleitung aufgegriffen und im Alltag stabilisiert werden könnten.

Aus der Praxis zeigt sich, wie wertvoll es wäre, die in den Workshops angestoßenen Impulse durch Anschlussangebote und verlässliche Strukturen zu vertiefen. So könnten Jugendliche auch über die Haftzeit hinaus Orientierung und Unterstützung finden.

Strategien für die Zukunft

Prävention entfaltet ihre Stärke genau dort, wo Jugendliche in ihrer Realität abgeholt werden. Sie eröffnet Räume des Nachdenkens, ermöglicht Gespräche und setzt Impulse, die sonst kaum zustande kämen. Gerade beim Thema Drogen ist es entscheidend, konkrete Alternativen und Hilfen sichtbar zu machen, bevor Abhängigkeit und Beschaffungskriminalität tiefer greifen.

Damit solche Impulse langfristig Wirkung entfalten, braucht es ergänzende Strategien, die in Sprache und Lebenswelt der Jugendlichen ansetzen, zwischen Rap, Konsumdruck und den harten Realitäten des Jugendvollzugs. Wo Vertrauen wachsen kann und Alternativen erlebbar sind, beginnt ein Prozess des Umdenkens. Prävention zeigt dann ihre ganze Kraft: nicht nur Grenzen aufzuzeigen, sondern neue Wege zu eröffnen. Kontinuierlich, verlässlich und in einer Sprache, die Jugendliche wirklich erreicht.

Önder Ünal, Islamwissenschaftler und Pädagoge, ist seit 2016 Leiter der Beratungsstelle Baden-Württemberg, die in mehreren Justizvollzugsanstalten Präventionsworkshops für Häftlinge anbietet.

Stand: 2025

 

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Politische Bildung findet nicht nur im Klassenzimmer statt, auch im Strafvollzug sollte es Räume für die Reflexion politischer Themen und gesellschaftliches Lernen geben.

Das Team von „Yallah Justiz – phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention im Strafvollzug“ führte in den Sommerferien 2025 ein Bildungsprogramm im saarländischen Jugendstrafvollzug durch, um zentrale demokratische Werte zu vermitteln, Diskriminierung entgegenzuwirken und Räume für Reflexion zu schaffen. Das Programm umfasste vier Module und wurde mit zwei Gruppen à fünf Teilnehmern im Alter von 15 bis 21 Jahren durchgeführt.

Die Module im Überblick

1. Demokratie leben und verstehen: Wie funktioniert Demokratie – und wer entscheidet was? In Rollenspielen und Gruppenübungen erlebten die Teilnehmer hautnah, wie demokratische Aushandlungsprozesse funktionieren und warum Perspektivwechsel wichtig sind. Besonders die „Insel-Übung“, bei der gemeinsam Regeln entwickelt werden müssen, führte zu lebhaften Diskussionen: Was passiert, wenn jemand nicht mehr arbeiten kann? Schnell wurden Bezüge zu realen gesellschaftlichen Fragen hergestellt – etwa zur Rolle des Sozialstaats und zum Umgang mit Menschen, die keine Leistung erbringen können. Besonders intensiv wurde die Frage behandelt, wie mit Regelverstößen umzugehen ist. Die Teilnehmer stellten Bezüge zum eigenen Gefängnisalltag her und diskutierten über alternative Maßnahmen. Einige plädierten dafür, Inhaftierte durch gemeinnützige Arbeit in die Gesellschaft einzubinden, anstatt sie lediglich zu isolieren.

2. Unsere Grundrechte: Welche Rolle spielen Grundrechte im Alltag? Die Teilnehmer befassten sich mit Artikeln des Grundgesetzes und stellten direkte Bezüge zu aktuellen Krisen her. Schnell entwickelten sich Gespräche über Völkerrecht, Menschenrechte und den Krieg im Nahen Osten. Deutlich wurde: Die Jugendlichen haben ein großes Bedürfnis, auch komplexe und emotional besetzte politische Fragen zu diskutieren. Speziell zur Anwendung der Grundrechte im Gefängnis bestand ein hoher Diskussionsbedarf. Welche Einschränkungen sind im Strafvollzug legitim, welche vielleicht sogar rechtswidrig? Die Teilnehmer setzten sich kritisch mit sehr persönlichen Bezügen mit ihrer eigenen Lebensrealität auseinander.

3. Soziale Ungleichheit und Diskriminierung: In einer Übung zu Diskriminierung zeigte sich: Alle Teilnehmer hatten eigene Erfahrungen mit Ausgrenzung – zugleich gaben sie offen zu, selbst schon diskriminiert zu haben. Am stärksten sensibilisiert waren sie für Rassismus, Klassismus und Ableismus. Deutlich schwieriger gestaltete sich die Auseinandersetzung mit queeren Lebensrealitäten. Hier traten Vorbehalte, Abwehr und stereotype Vorstellungen von Männlichkeit zutage. Für viele galt weiterhin ein klares Rollenverständnis: Ein Mann muss stark sein und ist verantwortlich für die Familie. Diese Haltungen wurden gezielt hinterfragt – etwa mit der Frage, was Stärke eigentlich bedeutet und woher solche Rollenbilder stammen.

4. Verschwörungsnarrative: Anhand eines Wimmelbildes identifizierten die Teilnehmer bekannte Symbole und Erzählungen und diskutierten deren Hintergründe. Es wurde deutlich, dass Vorurteile gegenüber jüdischem Leben tief verankert sind – häufig gespeist durch Halbwissen, einseitige Quellen und fehlender differenzierter Information. Besonders im Kontext des Nahostkonflikts wurde eine Frustration gegenüber politischen Entwicklungen häufig auf „die Juden“ projiziert, was ein Hinweis darauf ist, dass die aktuelle Situation im Gazastreifen Antisemitismus befördern kann.

Begegnung, Beziehung, Bildung

Die Diskussionen machten den hohen Bedarf an Bildungsarbeit zu aktuellen Krisen und daraus resultierenden Haltungen, Medienkompetenz und politischer Aufklärung sichtbar. Besonders bei den Themen queeres Leben und Antisemitismus zeigte sich ein erheblicher Reflexions- und Bildungsbedarf. Gleichzeitig wurde deutlich, wie wichtig geschützte Räume sind, um solche Haltungen offen zur Sprache zu bringen und pädagogisch bearbeiten zu können.

Besonders spannend war, wie sich im Verlauf die Gruppendynamiken veränderten und Vorurteile abgebaut werden konnten. Ein Teilnehmer zeigte sich erstaunt über das politische Wissen eines Mitinhaftierten, der nach Deutschland geflohen ist: „Ich hätte nicht gedacht, dass du so viel über dieses Land weißt. Du weißt ja mehr als ich – und ich bin Deutscher.“ Die beiden tauschen sich seitdem öfter in der Freistunde aus – eine Verbindung, die vorher nicht existierte. Ein anderer Teilnehmer, der zuvor keine Kontakte zu anderen Inhaftierten pflegte, äußerte gegen Ende des Programms: „Es gibt hier ja doch korrekte Leute.“

In der Evaluation äußerten die Teilnehmer, dass sie über Dinge nachgedacht hätten, über die sie sonst kaum sprächen – bis hin zur selbstkritischen Reflexion: „Vielleicht sollte ich weniger hassen.“

Autor*innen: Daniel Mempel und Jamie-Lee Oster

Das Projekt „Yallah Justiz – phänomenübergreifende Radikalisierungsprävention im Strafvollzug“ wird im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ vom Bundesministerium für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem saarländischen Ministerium der Justiz gefördert.

Stand: 2025

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Es ist der fünfte Tag der Workshop-Reihe. Die Gruppe ist mittlerweile relativ vertraut miteinander. Die Trainer*innen haben heute etwas Besonderes vor: Biografiearbeit. Sie ist ein integraler Bestandteil der Workshop-Reihe und soll die Teilnehmenden zur Selbstreflexion anregen sowie über die Propaganda der extremistischen Szene aufklären. Dadurch sollen die Teilnehmenden gegen manipulative Faktoren gestärkt werden, um ihre Zukunft, in der sie weder sich noch anderen Schaden zufügen, eigenständig zu gestalten.

Ziele und Inhalte der Präventions-Workshops

Die phänomenspezifischen Workshops (Phänomenbereich religiös begründeter Extremismus) finden in der Freizeit der Inhaftierten statt. Die Zielgruppe besteht hauptsächlich aus Männern mit Migrationshintergrund. Während der zwölf Tage sprechen wir im Gruppenformat über verschiedene Themen, die von Extremist*innen polemisch und gezielt in ihrer Manipulationsstrategie verwendet werden, wie etwa Demokratie und Rechtsstaat, Menschenrechte, Religion, Gender, Männlichkeitskonzepte, Extremismus und Diskriminierung.

In der Regel können sich alle Interessierten anmelden. Die Auswahl erfolgt durch den Sozialdienst unter Berücksichtigung der anstaltsinternen Regelungen und Dynamiken. Um eine vorurteilsfreie Haltung und Professionalität zu bewahren, nehmen die Trainer*innen keine Akteneinsicht. Die Straftat ist nicht Gegenstand der Gespräche.

Methodisch ist der Workshop als interaktive Bildungsarbeit einzuordnen, die im Gruppensetting stattfindet und stark partizipativ angelegt ist. Es gibt einen Kern von Inhalten, die bearbeitet werden, aber auch eine gewisse Flexibilität bei den Themen, die man je nach emotionaler Lage der Gruppe anpassen kann. Da Radikalisierung oft als Ausgleich für die bisherigen Fehlentwicklungen im Leben wirkt, versuchen wir, die Teilnehmenden für dieses Thema zu sensibilisieren und alternative Zukunftsideen für die Zeit nach der Haftentlassung zu diskutieren.

Wichtig für den pädagogischen Anspruch ist es, dass die Teilnahme freiwillig und nicht in Form einer Zuweisung erfolgt. Die Durchführung erfordert eine vorurteilsfreie Haltung der Trainer*innen, die professionell mit mehrfach belasteten Menschen umgehen. Die Workshops finden in einem geschützten Rahmen statt; JVA-Bedienstete sind nicht anwesend. Die Trainer*innen übernehmen durch ihre teils migrantischen Wurzeln und ihr demokratisches und weltoffenes Religionsverständnis die Rolle von authentischen Vorbildern.

Die fünf Workshop-Module

Im ersten Modul des Workshops finden ein Kennenlernen und die Vermittlung von Grundlagenwissen über den Islam, seine Entstehung, Strömungen und sein Verhältnis zu den anderen abrahamitischen Religionen statt. Ein Fokus liegt dabei auf dem historischen Kontext gewisser Ereignisse und den Rechtsprechungen, die sich daraus entwickelt haben. Dies ist essenziell für den weiteren Workshop-Verlauf, da wir uns bei der anschließenden vertieften Bearbeitung der Themen Extremismus und Radikalisierung häufig auf die Grundlagen beziehen, um Interpretationsmöglichkeiten aufzuzeigen und die extremistischen Narrative fundiert zu dekonstruieren.

Im zweiten Modul werden die Themen Menschenrechte und Demokratie, das Verhältnis zwischen Tradition und Moderne und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in Bezug zum Islam behandelt. Durch Rollenspiele und einen Pool aus verschiedenen Übungen, die je nach Gruppenkonstellation Anwendung finden, werden Denkanstöße gegeben, um die Wichtigkeit einer demokratischen und humanistischen Haltung vor Augen zu führen. In diesem Modul kommen häufig Rückfragen zu Möglichkeiten der persönlichen Weiterentwicklung nach der Haftentlassung, die die Trainer*innen individuell beantworten.

Das dritte Modul widmet sich den Themen Geschlechterrollen sowie Ehr- und Männlichkeitsverständnis der Teilnehmenden. In der Regel haben die meisten Teilnehmenden ein traditionalistisch geprägtes Bild von Geschlechterrollen und Männlichkeitsvorstellungen. Hier werden durch gezielte Übungen Reflexionsprozesse angestoßen, die patriarchale Vorstellungen der Geschlechterverhältnisse aufbrechen sollen.

Biografiearbeit

Die Trainer*innen nutzen die mittlerweile entstandene vertrauensvolle Atmosphäre, um über persönliche Geschichten zu sprechen. Die Biografiearbeit, die an dieser Stelle eingesetzt wird, ist eine Schlüsselübung des Workshops. Die Teilnehmenden haben hier die Möglichkeit, den eigenen Werdegang mit den anderen zu teilen, ohne auf ihre kriminellen Handlungen im Detail einzugehen. Die Trainer*innen betonen, dass die Straftat nicht Gegenstand des Gesprächs ist und an dieser Stelle nicht vor der Gruppe erzählt werden muss. Die Übung hilft den Teilnehmenden, einen roten Faden in der eigenen Biografie zu erkennen und Kausalitäten und Muster im eigenen Verhalten zu sehen. In der Regel wird diese Übung im Nachhinein von der Gruppe als besonders bedeutend angesehen, da sie bewusst Emotionen zulässt. Die Trainer*innen legen mit gezielten Rückfragen und koordinierter Moderation stets den Fokus darauf, den erzählenden Teilnehmenden einen lösungsorientierten, gewaltfreien und gesetzeskonformen Umgang mit Krisensituationen zu vermitteln. In der Biografiearbeit werden die Teilnehmenden dazu ermutigt, ihre eigenen Stärken zu erkennen, Ziele für die Zeit nach der Haftentlassung zu formulieren und für potenzielle Krisensituationen gewappnet zu sein.

Extremismus

Im vierten Modul wird intensiv über das Thema (religiös begründeter) Extremismus und die Manipulationsstrategien extremistischer Szenen gesprochen. Hier ist es besonders wichtig, die Teilnehmenden über dieses Phänomen aufzuklären, sodass sie eventuelle Ansprachen und Manipulationsversuche erkennen und ihnen widerstehen können. Die Diskussionen und Übungen sollen die Teilnehmenden zudem befähigen, das Gelernte auch auf andere Lebensbereiche zu übertragen und sich nicht zur Marionette einer weiteren Subkultur, wie etwa Gangs oder anderen kriminellen Banden, zu machen. Letzten Endes liegen der bedingungslosen Hingabe zu einer Peer Group (soziale Gruppe) häufig ähnliche gruppendynamische Mechanismen sowie Push- und Pull-Faktoren (Druck und Anreize) zugrunde.

Im letzten Modul nehmen sich die Trainer*innen die Zeit, um ausführlich über Diskriminierung und Rassismus zu sprechen, da diese Themen oft als Türöffner zu einer Radikalisierung bzw. zu einer Hinwendung zu einem kriminellen Milieu dienen können. Das Thema Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird aus verschiedenen Perspektiven, wie etwa antimuslimischer Rassismus/Antisemitismus/Antiziganismus etc. betrachtet. Die Teilnehmenden haben die Möglichkeit, sowohl über ihre eigene Rolle in der Diskriminierung anderer Menschen als auch über eigene Diskriminierungserfahrungen zu sprechen. Anhand von positiven Beispielen werden der Gruppe in solchen Fällen Handlungsmöglichkeiten dargelegt.

Abgeschlossen wird der Workshop mit einer Übung zur Zielformulierung für die Zeit nach der Entlassung und der Übergabe der Teilnahmezertifikate. In der Regel sind die Teilnehmenden froh darüber, dass sie offen über die Themen sprechen und sich weiterbilden konnten. Die ausgefüllten Feedbackbögen bieten den Trainer*innen die Möglichkeit, eine umfangreiche Rückmeldung zu erhalten und den Workshop stets weiterzuentwickeln. Oft wird der Wunsch nach einer Fortführung des Workshops und einer Möglichkeit, den Kontakt auch nach der Haftentlassung zu halten, geäußert.

Der beschriebene Workshop wird von Violence Prevention Network gGmbH im Rahmen des Projekts „PräWo Justiz 3.0 – Workshop-Reihe im Justizvollzug für junge radikalisierungsanfällige Inhaftierte“ in Baden-Württemberg durchgeführt.

Stand: 2025