Wenn wir heute mit Jugendlichen im Strafvollzug arbeiten, fällt uns auf: Das Alter der Inhaftierten sinkt und gleichzeitig wird die Gewaltkriminalität brutaler. Immer häufiger begegnen wir 15- oder 16-Jährigen, die schon mit massiven Gewalttaten in Erscheinung getreten sind.
Ein unterschätztes, aber zentrales Thema ist der Stellenwert von Drogen im Leben dieser Jugendlichen. Kaum ein Gespräch, in dem nicht Substanzen wie Cannabis, Spice oder härtere Drogen eine Rolle spielen. Für viele sind sie Teil des Alltags, eng verknüpft mit dem eigenen Selbstbild und den Vorbildern aus der Rap-Szene. Wenn die Jugendlichen über ihre Träume sprechen, dann tauchen oft die Namen bekannter Rapper auf – ein Leben zwischen Haftbefehl-Songs, Drogenkonsum und der erdrückenden Erfahrung, keine Perspektive zu haben.
Viele dieser Jugendlichen wachsen in einem Umfeld auf, in dem Kriminalität, Sucht und Gewalt zur Normalität gehören. Die sozialen Rahmenbedingungen wie etwa fehlende familiäre Stabilität, Armut, Schulabbrüche und ein Mangel an positiven Rollenvorbildern verstärken die Anfälligkeit für riskantes Verhalten. Rap-Videos und Social Media tragen dazu bei, ein Bild von Erfolg zu zeichnen, das fast ausschließlich auf Härte, Geld und Statussymbolen beruht. Die Orientierung an dieser Kultur macht es schwer, langfristige Ziele wie eine Arbeit oder eine Ausbildung überhaupt noch als realistische Optionen wahrzunehmen.
Prävention an einem schwierigen Punkt
Diese Lebenswelt macht Prävention besonders herausfordernd. Wer in dieser Kultur der Härte und Abhängigkeit groß wird, muss zunächst erreicht werden, bevor er oder sie über Alternativen nachdenken kann. In unseren Workshops erleben wir immer wieder, dass Jugendliche erst dann ins Gespräch kommen, wenn sie spüren: Hier nimmt sich jemand Zeit, hier geht es nicht nur um Kontrolle, sondern um echtes Interesse. Gleichzeitig zeigt sich: Die Kombination aus Perspektivlosigkeit, Drogenkonsum und Gewalterfahrungen schafft eine besondere Vulnerabilität. In diesem Zustand sind manche Jugendliche empfänglich für extremistische Deutungsangebote, die einfache Antworten liefern und die Ursachen für die eigene Misere nach außen verlagern, anstatt zur Übernahme von Eigenverantwortung zu ermutigen.
Oft ist es die Sprache des Extremismus, in der diese Machtlosigkeit und Schwäche ihren Ausdruck findet. Sie ist dabei nicht die eigentliche Ursache, sondern vielmehr der Rahmen, in dem das eigene Scheitern eine neue Deutung erfährt. Wer sich in diesem Deutungsrahmen bewegt, kann unbewusst zum Mitläufer im Extremismus werden, nicht zuletzt, weil er dort plötzlich Anerkennung und Zugehörigkeit erlebt. Diese Anerkennung möchten viele nicht mehr verlieren, was wiederum Möglichkeiten zur Manipulation eröffnet.
Wichtig ist deshalb, Räume zu schaffen, in denen Jugendliche ihre Erfahrungen teilen dürfen. Mit Methoden wie Biografiearbeit, Diskussionen über Werte und Gesprächen zu Zukunftsvorstellungen entstehen Gelegenheiten, ins Nachdenken zu kommen. Manche beschreiben das später als das erste Mal, dass sie sich bewusst gefragt haben, wie ihr Leben weitergehen würde, wenn alles so bliebe wie bisher. Genau hier brauchen sie ein alternatives Angebot: eines, das Verantwortung stärkt und Selbstwirksamkeit in den Mittelpunkt stellt.
Zwischen Wirkung und Grenzen
Die Rückmeldungen auf unsere Angebote sind durchweg positiv. Viele Jugendliche betonen, wie gut es ihnen tut, über ihre Situation reden zu können und neue Impulse mitzunehmen. Einige berichten sogar, dass sie zum ersten Mal das Gefühl haben, ernst genommen und nicht nur als „Problem“ betrachtet zu werden. Auch die Trainer*innen erleben, dass diese Arbeit sinnvoll ist und etwas bewegt, mal in kleinen Schritten, mal in sehr eindrücklichen Momenten, wenn Jugendliche beginnen, Fragen nach ihrer Zukunft oder ihren Werten zu stellen.
Trotzdem stoßen solche Angebote an Grenzen. Zwölf oder vierzehn Tage reichen nicht aus, um tief verwurzelte Muster, Abhängigkeiten oder alte Loyalitäten zu durchbrechen. Zu groß ist oft der Druck, nach der Entlassung wieder in alte Strukturen zurückzukehren, sei es durch Clique, Familie oder finanzielle Not. Aber die Workshops setzen einen wertvollen Anfang. Es wäre ein Gewinn, wenn diese Impulse durch eine längerfristige Begleitung aufgegriffen und im Alltag stabilisiert werden könnten.
Aus der Praxis zeigt sich, wie wertvoll es wäre, die in den Workshops angestoßenen Impulse durch Anschlussangebote und verlässliche Strukturen zu vertiefen. So könnten Jugendliche auch über die Haftzeit hinaus Orientierung und Unterstützung finden.
Strategien für die Zukunft
Prävention entfaltet ihre Stärke genau dort, wo Jugendliche in ihrer Realität abgeholt werden. Sie eröffnet Räume des Nachdenkens, ermöglicht Gespräche und setzt Impulse, die sonst kaum zustande kämen. Gerade beim Thema Drogen ist es entscheidend, konkrete Alternativen und Hilfen sichtbar zu machen, bevor Abhängigkeit und Beschaffungskriminalität tiefer greifen.
Damit solche Impulse langfristig Wirkung entfalten, braucht es ergänzende Strategien, die in Sprache und Lebenswelt der Jugendlichen ansetzen, zwischen Rap, Konsumdruck und den harten Realitäten des Jugendvollzugs. Wo Vertrauen wachsen kann und Alternativen erlebbar sind, beginnt ein Prozess des Umdenkens. Prävention zeigt dann ihre ganze Kraft: nicht nur Grenzen aufzuzeigen, sondern neue Wege zu eröffnen. Kontinuierlich, verlässlich und in einer Sprache, die Jugendliche wirklich erreicht.
Önder Ünal, Islamwissenschaftler und Pädagoge, ist seit 2016 Leiter der Beratungsstelle Baden-Württemberg, die in mehreren Justizvollzugsanstalten Präventionsworkshops für Häftlinge anbietet.
Stand: 2025