
Orhan Şenel arbeitet seit 2014 für Violence Prevention Network gGmbH. Im Rahmen des Projekts „Just X Berlin – Prävention und Deradikalisierung im Berliner Strafvollzug und in der Bewährungshilfe“ berät er muslimische Inhaftierte, die aus religiös begründet extremistischen Szenen aussteigen möchten.
Was motiviert dich bei deiner Arbeit?
Das Gefühl zu haben, dass die Person gerne zum Gespräch kommt und man sie wirklich in ihrer Lebenswirklichkeit unterstützen kann. Denn die Klienten haben nicht viele Anlaufstellen und Entlastungsmöglichkeiten. Wir arbeiten zwar im Rahmen der Deradikalisierung, aber genauso wichtig ist es, dass man die Störungen, die sie im Haftalltag erleben, mitbespricht. Ich glaube, ihnen mitzugeben, dass man an ihnen als Mensch und ihrem Alltag interessiert ist, ist immens wichtig.
Wie schaffst du es, den Inhaftierten wertschätzend und auf Augenhöhe gegenüberzutreten und zugleich ihr extremistisches Gedankengut mit all der Menschenfeindlichkeit und antidemokratischen Haltung anzuhören?
Das ist eine der schwierigsten Fragen in unserer Arbeit. Schon bei der ersten Begegnung muss der Mensch als Mensch angenommen werden – trotz der Tat und trotz der Haltung. Man muss sich für die Person interessieren und nicht in die Konfrontation gehen. Zwischen Tat und Mensch zu unterscheiden, ist in der Biografiearbeit gut möglich. So weit muss man aber einen Menschen erstmal bekommen, denn das ist schon sehr intim und emotional. Wenn man die Familienkonstellationen, das soziale Umfeld, die Arbeitssituation und so weiter kennt, hat man einen sehr guten Überblick über die Lebensumstände einer Person, die diese vielleicht selbst so gar nicht kennt. Wenn die ihr Leben auf einem Flipchart dargestellt sehen, sind die erstmal sehr ruhig, denn sie müssen das verarbeiten. Es ist die Menge an zerrissenen Verbindungen in der Familie, gescheiterten Beziehungen, schwierigen Lebensumständen – nicht nur bei sich selbst, sondern auch schon in den Generationen davor. Selten sind wir in der Situation, dass wir der Person etwas erklären müssen; die verstehen die Zusammenhänge selbst. Die Affinität zum Extremismus entsteht nicht aus einem negativen Erlebnis im Alltag, sondern das ist eine komplette Lebensgeschichte, die auch nicht selten die ganze Familie betrifft. Meistens ist es in der Beratung vorteilhafter zu schauen, woher das alles kommt, als sich an der Ideologie abzuarbeiten. Man ist bereiter, über Alternativen nachzudenken und einiges zu verstehen wie „Mein Vater war das Familienoberhaupt und ich kenne diese Gehorsamkeitsstrukturen aus meiner Familie und deshalb füge ich mich jetzt in einer entsprechenden Szene ein“. Dadurch wird die Person für uns in der Beratung zugänglicher, denn so entwickeln sich Folgethemen.
Was macht die Beratung besonders schwierig?
Zum Beispiel die Arbeitsmarktintegration nach der Haftentlassung. Ablehnung ist ein durchgehendes Problem im Leben eines Inhaftierten. Da wird wieder etwas ausgelöst – wie geht er mit der Enttäuschung um? Heißt das Rückzug und Rückfall in alte Verhaltensmuster oder heißt das dagegenhalten und weitermachen? An diesem Punkt ist es wichtig, eine Person an der Seite zu haben, die einen bestärkt. Nach der Entlassung ist die Rückfallvermeidung ein konkretes Thema, denn viele haben kaum jemanden, mit dem sie sich über Herausforderungen im Alltag austauschen können. Deswegen ist es wert, diese Arbeit zu machen, auch wenn es drei Jahre dauert, bis der Job da ist. Da steckt sehr viel Aufwand in einer Beratung drin – quatschen kann jeder, aber einen Menschen in einer schwierigen Situation professionell auffangen, ist ein ganz anderes Ding.
Gibt es ein bestimmtes Erlebnis, das auf den Punkt bringt, weshalb deine Arbeit sinnvoll ist?
Es gibt mehrere Erlebnisse, bei denen ich sagen würde: Allein nur deswegen ist es wert, mit diesen Leuten zu arbeiten. Ich würde die Arbeit nicht machen, wenn ich keine Hoffnung hätte. Mit dieser Haltung gehe ich in jede Beratung rein. Eine beständige Beratung führt dazu, dass sich kleinschrittig Entwicklungen ergeben. Einer, der sich das Bein gebrochen hat, kann auch nicht sofort wieder auf den Fußballplatz. Wir können nur mit dem arbeiten, was ein Mensch mitbringt und entsprechend der Lebensumstände, in denen er sich gerade befindet. Wie sehr lässt sich ein Inhaftierter wohl auf eine Beratung ein, der gerade eigentlich mit dem Thema Abschiebung zu tun hat? Er braucht dann einen Rechtsbeistand und wahrscheinlich auch seelsorgerische Unterstützung und nicht unbedingt eine Deradikalisierungsmaßnahme, der hat ganz andere Sorgen.
Ein Klassiker: Es war einer unserer ersten Justizfälle, ein palästinensischer Geflüchteter, seine Lebensumstände erlaubten nicht ansatzweise eine Beratung: Duldung, massiv schwierige Familienzustände, er verlor ein Kind. Ich dachte, der hat komplett die Hoffnung verloren. Dieser Mensch ist heute der erfolgreichste in seinem Ausbildungslehrgang, sehr intelligent, schulische Maßnahmen und Weiterbildungen nimmt er an, seine Familie hat zusammenhalten können – trotz schwieriger Umstände. Wir haben ihn unterstützt und begleitet. Und allein dieser Mensch als Beispiel zeigt, dass die Beratung definitiv eine Grundlage bildet, um Menschen zu unterstützen und zu begleiten, damit sie handlungsfähig werden. Dieser Mensch ist für mich das Aushängeschild, bei dem sage ich: Deswegen ist es die Arbeit wert.
Violence Prevention Network gGmbH setzt Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitungen im Phänomenbereich Islamismus im Rahmen des Projekts „Just X Berlin – Prävention und Deradikalisierung im Berliner Strafvollzug und in der Bewährungshilfe“ um.