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Haftanstalten bieten eine besondere Gelegenheitsstruktur, um Distanzierungsprozesse bei Menschen aus organisiert rechten Strukturen oder mit rechtsextremen Orientierungen zu initiieren. Der Zugang zu dieser Zielgruppe stellt für Beratungsangebote in jedem Beratungskontext – auch außerhalb von Haft – eine Herausforderung dar, da die Motivation für Gespräche in der Regel erst durch Impulse von außen erzeugt wird. Durch die Allgegenwärtigkeit von Kontrolle in der Haft ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine extrem rechte Person als solche erkannt wird, höher. Gleichzeitig ist die Bereitschaft bei Gefangenen, Angebote wahrzunehmen, die sie aus dem regulären Haftalltag herausbringen, erfahrungsgemäß groß.

Wie funktioniert Distanzierungsarbeit?

Die Beratungen sind Angebote der sozialpädagogischen Einzelfallberatung, also ein individuelles, für den Einzelfall entwickeltes aufsuchendes Hilfsangebot. Die Beratungsarbeit beginnt – wie in den meisten Kontexten Sozialer Arbeit – mit dem Beziehungsaufbau. Einerseits geht es darum, den vertraulichen Rahmen der Gespräche zu verdeutlichen, der es der beratungsnehmenden Person ermöglicht, offen zu sprechen. Der beratungsnehmenden Person wird außerdem Wertschätzung für die Bereitschaft, sich auf das Gespräch einzulassen, entgegengebracht sowie Interesse für ihre Person und ihr Anliegen. Andererseits ist auch die Markierung von Dissens Teil des Beziehungsaufbaus.

Der Prozess der Ausstiegs- und Distanzierungsberatung umfasst klassische Elemente einer sozialpädagogischen Begleitung, das heißt sie beinhaltet die Unterstützung in lebenspraktischen Fragen zu Beruf und Freizeit, eine Auftrags- und Zielplanung oder die Auseinandersetzung mit Herausforderungen, die den eigenen Zielen womöglich entgegenstehen, wie etwa eine Gewaltproblematik. Die Ideologiearbeit ist ein darüberhinausgehendes Element, das Teil eines jeden Ausstiegsprozesses sein muss, wenn er den Qualitätskriterien der Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ entsprechen soll. Sie wird dabei nicht abgekoppelt vom Beratungsprozess, sondern in die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und Identität integriert.

Extrem rechte Ideologie zeigt sich in unterschiedlichen Organisationsformen und in unterschiedlicher Gestalt, ist aber übergreifend zu verstehen als Ideologie der Ungleichwertigkeit. Diese zeigt sich in rassistisch, antisemitisch, sexistisch und sozialdarwinistisch strukturierten Weltbildern und trifft auf der politischen Ebene auf die Ablehnung von pluralistischer Demokratie. Ganz konkret äußern sich diese Weltbilder beim Blick auf gesellschaftliche Fragen. So wäre die Idealvorstellung von Gesellschaft in extrem rechten Kontexten eine vermeintlich homogene patriarchal strukturierte Volksgemeinschaft, die sich aus weißen heterosexuellen Familien zusammensetzt, in denen traditionelle Geschlechterrollen eingehalten werden. Diese Wunschvorstellung ist nicht allein begrenzt auf die Ausgestaltung der Familienmodelle im privaten Bereich, sondern soll gesellschaftlich bindend sein. Diese Idealvorstellung haben Aussteiger*innen in der Regel in ihrem Alltag und Umfeld nicht erlebt – wenige Beispiele von völkischen Parallelgemeinschaften ausgenommen – in Gesprächen wird aber immer wieder deutlich, dass sie in ihren normativen Setzungen von dieser Vorstellung beeinflusst sind.

Ihre Wahrnehmung ist neben ihrer rassistischen und antisemitischen Strukturierung stark sexistisch bestimmt. NinA NRW arbeitet aus diesem Grund in der Beratung mit einer geschlechterreflektierenden Perspektive. Das bedeutet nicht allein, dass einzelne Methoden oder Übungen zum Thema angewendet werden, sondern im Verstehen von Handlungen und Bewertungen geschlechtliche Zuschreibungen immer mitgedacht und, soweit möglich, adressiert werden. Geschlechtliche Zuschreibungen meint in diesem Sinne festgeschriebene Rollenvorstellungen für Männer und Frauen sowie ein grundsätzlich binäres Verständnis von Geschlecht. Beides wird von rechten Männern und Frauen gleichermaßen geteilt.

Wie kann geschlechterreflektierende Beratung aussehen?

Es geht nicht darum, Verhaltensweisen oder Bewertungsmuster in der Beratung vorzugeben oder zu trainieren, sondern Alternativen zu eindimensionalen Vorstellungen anzubieten. Ziel ist es, die Handlungsspielräume für die Beratungsnehmenden zu erweitern und neue Erfahrungen möglich zu machen. Hierbei können auch die Berater*innen selbst eine wichtige Rolle einnehmen. Zum Beispiel ist bereits die Berater*innenkonstellation für die Gestaltung der Beratung relevant, denn es ist möglich, bewusst mit ihr zu arbeiten. Damit ist nicht nur die jeweilige Geschlechtsidentität (männlich, weiblich, non-binär etc.) der Berater*innen gemeint, sondern die Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen, die sie zur Verfügung stellen.

Wie in allen pädagogischen Settings ist Ausstiegsarbeit auch professionelle Beziehungsarbeit. Das heißt, wenn eine gute Beziehung besteht und Berater*innen respektiert werden, können sie alternative Geschlechterkonstruktionen anbieten, ohne dass sie direkt dafür abgewertet werden. So kann beispielsweise ein männlicher Berater ein Männlichkeitskonzept zur Verfügung stellen, das Gefühle zulässt und benennt, und dennoch nicht als „schwach“ wahrgenommen wird. Da Ideale von Männlichkeit und Weiblichkeit identitätsstiftend wirken, ist die Frage, wie Selbstbewusstsein über Identifikationsangebote aufgebaut werden kann, die ohne die Abwertung eines konstruierten „Anderen“ auskommen. Diesen Ansatz nehmen wir auch bei der Bearbeitung von anderen Diskriminierungsformen zur Hilfe. Dabei geht es nicht darum, bestimmte Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit an sich abzulehnen, sondern herauszufinden, was diese für die oder den Einzelne*n bedeuten und was sie vielleicht darüber hinaus sein können. Dahinter steht immer die Frage, die geschlechterreflektierende Pädagogik grundsätzlich stellt: Wer bin ich als Mensch – und nicht als Mann oder Frau?

Die beschriebene Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit im Kontext Rechtsextremismus wird durch das Projekt „NinA NRW“ in Nordrhein-Westfalen durchgeführt.

 

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Orhan Şenel arbeitet seit 2014 für Violence Prevention Network gGmbH. Im Rahmen des Projekts „Just X Berlin – Prävention und Deradikalisierung im Berliner Strafvollzug und in der Bewährungshilfe“ berät er muslimische Inhaftierte, die aus religiös begründet extremistischen Szenen aussteigen möchten.

Was motiviert dich bei deiner Arbeit?

Das Gefühl zu haben, dass die Person gerne zum Gespräch kommt und man sie wirklich in ihrer Lebenswirklichkeit unterstützen kann. Denn die Klienten haben nicht viele Anlaufstellen und Entlastungsmöglichkeiten. Wir arbeiten zwar im Rahmen der Deradikalisierung, aber genauso wichtig ist es, dass man die Störungen, die sie im Haftalltag erleben, mitbespricht. Ich glaube, ihnen mitzugeben, dass man an ihnen als Mensch und ihrem Alltag interessiert ist, ist immens wichtig.

Wie schaffst du es, den Inhaftierten wertschätzend und auf Augenhöhe gegenüberzutreten und zugleich ihr extremistisches Gedankengut mit all der Menschenfeindlichkeit und antidemokratischen Haltung anzuhören?

Das ist eine der schwierigsten Fragen in unserer Arbeit. Schon bei der ersten Begegnung muss der Mensch als Mensch angenommen werden – trotz der Tat und trotz der Haltung. Man muss sich für die Person interessieren und nicht in die Konfrontation gehen. Zwischen Tat und Mensch zu unterscheiden, ist in der Biografiearbeit gut möglich. So weit muss man aber einen Menschen erstmal bekommen, denn das ist schon sehr intim und emotional. Wenn man die Familienkonstellationen, das soziale Umfeld, die Arbeitssituation und so weiter kennt, hat man einen sehr guten Überblick über die Lebensumstände einer Person, die diese vielleicht selbst so gar nicht kennt. Wenn die ihr Leben auf einem Flipchart dargestellt sehen, sind die erstmal sehr ruhig, denn sie müssen das verarbeiten. Es ist die Menge an zerrissenen Verbindungen in der Familie, gescheiterten Beziehungen, schwierigen Lebensumständen – nicht nur bei sich selbst, sondern auch schon in den Generationen davor. Selten sind wir in der Situation, dass wir der Person etwas erklären müssen; die verstehen die Zusammenhänge selbst. Die Affinität zum Extremismus entsteht nicht aus einem negativen Erlebnis im Alltag, sondern das ist eine komplette Lebensgeschichte, die auch nicht selten die ganze Familie betrifft. Meistens ist es in der Beratung vorteilhafter zu schauen, woher das alles kommt, als sich an der Ideologie abzuarbeiten. Man ist bereiter, über Alternativen nachzudenken und einiges zu verstehen wie „Mein Vater war das Familienoberhaupt und ich kenne diese Gehorsamkeitsstrukturen aus meiner Familie und deshalb füge ich mich jetzt in einer entsprechenden Szene ein“. Dadurch wird die Person für uns in der Beratung zugänglicher, denn so entwickeln sich Folgethemen.

Was macht die Beratung besonders schwierig?

Zum Beispiel die Arbeitsmarktintegration nach der Haftentlassung. Ablehnung ist ein durchgehendes Problem im Leben eines Inhaftierten. Da wird wieder etwas ausgelöst – wie geht er mit der Enttäuschung um? Heißt das Rückzug und Rückfall in alte Verhaltensmuster oder heißt das dagegenhalten und weitermachen? An diesem Punkt ist es wichtig, eine Person an der Seite zu haben, die einen bestärkt. Nach der Entlassung ist die Rückfallvermeidung ein konkretes Thema, denn viele haben kaum jemanden, mit dem sie sich über Herausforderungen im Alltag austauschen können. Deswegen ist es wert, diese Arbeit zu machen, auch wenn es drei Jahre dauert, bis der Job da ist. Da steckt sehr viel Aufwand in einer Beratung drin – quatschen kann jeder, aber einen Menschen in einer schwierigen Situation professionell auffangen, ist ein ganz anderes Ding.

Gibt es ein bestimmtes Erlebnis, das auf den Punkt bringt, weshalb deine Arbeit sinnvoll ist?

Es gibt mehrere Erlebnisse, bei denen ich sagen würde: Allein nur deswegen ist es wert, mit diesen Leuten zu arbeiten. Ich würde die Arbeit nicht machen, wenn ich keine Hoffnung hätte. Mit dieser Haltung gehe ich in jede Beratung rein. Eine beständige Beratung führt dazu, dass sich kleinschrittig Entwicklungen ergeben. Einer, der sich das Bein gebrochen hat, kann auch nicht sofort wieder auf den Fußballplatz. Wir können nur mit dem arbeiten, was ein Mensch mitbringt und entsprechend der Lebensumstände, in denen er sich gerade befindet. Wie sehr lässt sich ein Inhaftierter wohl auf eine Beratung ein, der gerade eigentlich mit dem Thema Abschiebung zu tun hat? Er braucht dann einen Rechtsbeistand und wahrscheinlich auch seelsorgerische Unterstützung und nicht unbedingt eine Deradikalisierungsmaßnahme, der hat ganz andere Sorgen.
Ein Klassiker: Es war einer unserer ersten Justizfälle, ein palästinensischer Geflüchteter, seine Lebensumstände erlaubten nicht ansatzweise eine Beratung: Duldung, massiv schwierige Familienzustände, er verlor ein Kind. Ich dachte, der hat komplett die Hoffnung verloren. Dieser Mensch ist heute der erfolgreichste in seinem Ausbildungslehrgang, sehr intelligent, schulische Maßnahmen und Weiterbildungen nimmt er an, seine Familie hat zusammenhalten können – trotz schwieriger Umstände. Wir haben ihn unterstützt und begleitet. Und allein dieser Mensch als Beispiel zeigt, dass die Beratung definitiv eine Grundlage bildet, um Menschen zu unterstützen und zu begleiten, damit sie handlungsfähig werden. Dieser Mensch ist für mich das Aushängeschild, bei dem sage ich: Deswegen ist es die Arbeit wert.

Violence Prevention Network gGmbH setzt Distanzierungs- und Ausstiegsbegleitungen im Phänomenbereich Islamismus im Rahmen des Projekts „Just X Berlin – Prävention und Deradikalisierung im Berliner Strafvollzug und in der Bewährungshilfe“ um.