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Wie kann ein Gefängnis mehr leisten als Verwahrung? Die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede geht mit dem Restorative Justice-Projekt „Täter-Opfer-Kreis (TOK)“ bereits zum zweiten Mal einen neuen Weg, wie zuvor bereits die JVA Oldenburg 2018/19. Im Rahmen des Konzepts „Betroffenenorientiertes Arbeiten im Strafvollzug (BoAS)“ von Daniela Hirt begegnen sich im Gefängnis Menschen, die von Straftaten betroffen sind – Inhaftierte (nicht derselben Tat) und Menschen aus der Gesellschaft, die weder tatverantwortlich noch betroffen sind.

Restorative Justice ist ein Ansatz, der auf Begegnung und Veränderung statt Strafe setzt. Ziel ist es, die durch ein Verbrechen entstandenen Folgen zu verarbeiten. Der Kreisdialog bringt Betroffene von Straftaten, Täter und Vertreter*innen der Gesellschaft in einem strukturierten, sicheren Rahmen ins Gespräch. Der Kreisdialog fördert Empathie, Verantwortungsübernahme und neue Perspektiven, auf beiden Seiten.

Voraussetzung für die Teilnahme ist freiwilliges Engagement, keine strafrechtlichen Vorteile, keine instrumentellen Motive. In bis zu fünf getrennten Vorbereitungstreffen reflektieren Inhaftierte und Betroffene und Personen der Gesellschaft ihre Erlebnisse, Erwartungen und ihre Sicht auf Kriminalität. Erst danach erfolgt die gemeinsame Begegnung aller Beteiligten in einem geschützten Raum der JVA, beispielsweise in der Kapelle, begleitet von einem multiprofessionellen Team. Moderiert werden alle Projektdurchläufe von Daniela Hirt, der externen Expertin für Restorative Justice.

„Ich war aufgeregt. Ich wusste nicht, was auf mich zukommt. Doch dann wurde aus Konfrontation ein echter Dialog.“ (Teilnehmer (Betroffener))

Fünf Betroffene (u. a. Opfer von Raub und versuchtem Totschlag) und vier Inhaftierte (darunter Verurteilte wegen Raub, Körperverletzung und Mord) begegneten sich im vergangenem Projektdurchlauf  2022/23 in Bielefeld-Brackwede. Die Erfahrungen waren intensiv und transformierend: Betroffene fühlten sich erstmals gehört, konnten offene Fragen klären und ein Stück Selbstwirksamkeit zurückgewinnen. Die Inhaftierten erlebten durch die Opferperspektive eine emotionale Auseinandersetzung mit ihrer Tat, was zu einem veränderten Denken führte.

Die anschließende Nachbereitung zeigte: Alle Teilnehmenden gewannen individuelle Einsichten, viele sprachen von Entlastung, Vertrauen und der Möglichkeit, Rollen zu hinterfragen. Die Rückmeldungen bestätigen: Das Restorative Justice-Projekt wirkt auf vier Ebenen:

  • Für Betroffene: Perspektivwechsel, Entstigmatisierung, emotionale Verarbeitung
  • Für Inhaftierte: Verantwortungsübernahme, Empathie, Resozialisierung
  • Für die Gesellschaft: Abbau von Vorurteilen, Prävention, Dialogförderung
  • Für den Strafvollzug: innovative Resozialisierungsmaßnahme, Stärkung des Behandlungsauftrags, Verbesserung des Anstaltklimas

„Ich habe begriffen, dass ich nicht nur ein Gesetz verletzt habe, sondern einen Menschen.“ (inhaftierter Teilnehmer)

Die rechtlichen Grundlagen für Restorative Justice-Maßnahmen wie den „Täter-Opfer-Kreis“ existieren bereits, in Nordrhein-Westfalen ebenso wie in vielen anderen Bundesländern. Auf europäischer Ebene betont die Venedig-Erklärung (2021) sogar ein „Recht auf Restorative Justice“. Doch noch sind Projekte wie „Betroffenenorientiertes Arbeiten im Strafvollzug“ Ausnahmen. Die bisherigen Restorative Justice-Kreisdialoge in Gefängnissen zeigen eindrucksvoll: Mit fachlicher Begleitung, sorgfältiger Vorbereitung und institutioneller Unterstützung ist dieser Weg möglich und wirksam.

Restorative Justice im Strafvollzug braucht Mut, Ressourcen und klare Standards. Und bietet mehr als klassische Strafe: Es schafft Verbindung, Heilung und Perspektive. Für Täter*innen, für Betroffene von Straftaten und für die Gesellschaft.

 

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Haftanstalten bieten eine besondere Gelegenheitsstruktur, um Distanzierungsprozesse bei Menschen aus organisiert rechten Strukturen oder mit rechtsextremen Orientierungen zu initiieren. Der Zugang zu dieser Zielgruppe stellt für Beratungsangebote in jedem Beratungskontext – auch außerhalb von Haft – eine Herausforderung dar, da die Motivation für Gespräche in der Regel erst durch Impulse von außen erzeugt wird. Durch die Allgegenwärtigkeit von Kontrolle in der Haft ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine extrem rechte Person als solche erkannt wird, höher. Gleichzeitig ist die Bereitschaft bei Gefangenen, Angebote wahrzunehmen, die sie aus dem regulären Haftalltag herausbringen, erfahrungsgemäß groß.

Wie funktioniert Distanzierungsarbeit?

Die Beratungen sind Angebote der sozialpädagogischen Einzelfallberatung, also ein individuelles, für den Einzelfall entwickeltes aufsuchendes Hilfsangebot. Die Beratungsarbeit beginnt – wie in den meisten Kontexten Sozialer Arbeit – mit dem Beziehungsaufbau. Einerseits geht es darum, den vertraulichen Rahmen der Gespräche zu verdeutlichen, der es der beratungsnehmenden Person ermöglicht, offen zu sprechen. Der beratungsnehmenden Person wird außerdem Wertschätzung für die Bereitschaft, sich auf das Gespräch einzulassen, entgegengebracht sowie Interesse für ihre Person und ihr Anliegen. Andererseits ist auch die Markierung von Dissens Teil des Beziehungsaufbaus.

Der Prozess der Ausstiegs- und Distanzierungsberatung umfasst klassische Elemente einer sozialpädagogischen Begleitung, das heißt sie beinhaltet die Unterstützung in lebenspraktischen Fragen zu Beruf und Freizeit, eine Auftrags- und Zielplanung oder die Auseinandersetzung mit Herausforderungen, die den eigenen Zielen womöglich entgegenstehen, wie etwa eine Gewaltproblematik. Die Ideologiearbeit ist ein darüberhinausgehendes Element, das Teil eines jeden Ausstiegsprozesses sein muss, wenn er den Qualitätskriterien der Bundesarbeitsgemeinschaft „Ausstieg zum Einstieg“ entsprechen soll. Sie wird dabei nicht abgekoppelt vom Beratungsprozess, sondern in die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und Identität integriert.

Extrem rechte Ideologie zeigt sich in unterschiedlichen Organisationsformen und in unterschiedlicher Gestalt, ist aber übergreifend zu verstehen als Ideologie der Ungleichwertigkeit. Diese zeigt sich in rassistisch, antisemitisch, sexistisch und sozialdarwinistisch strukturierten Weltbildern und trifft auf der politischen Ebene auf die Ablehnung von pluralistischer Demokratie. Ganz konkret äußern sich diese Weltbilder beim Blick auf gesellschaftliche Fragen. So wäre die Idealvorstellung von Gesellschaft in extrem rechten Kontexten eine vermeintlich homogene patriarchal strukturierte Volksgemeinschaft, die sich aus weißen heterosexuellen Familien zusammensetzt, in denen traditionelle Geschlechterrollen eingehalten werden. Diese Wunschvorstellung ist nicht allein begrenzt auf die Ausgestaltung der Familienmodelle im privaten Bereich, sondern soll gesellschaftlich bindend sein. Diese Idealvorstellung haben Aussteiger*innen in der Regel in ihrem Alltag und Umfeld nicht erlebt – wenige Beispiele von völkischen Parallelgemeinschaften ausgenommen – in Gesprächen wird aber immer wieder deutlich, dass sie in ihren normativen Setzungen von dieser Vorstellung beeinflusst sind.

Ihre Wahrnehmung ist neben ihrer rassistischen und antisemitischen Strukturierung stark sexistisch bestimmt. NinA NRW arbeitet aus diesem Grund in der Beratung mit einer geschlechterreflektierenden Perspektive. Das bedeutet nicht allein, dass einzelne Methoden oder Übungen zum Thema angewendet werden, sondern im Verstehen von Handlungen und Bewertungen geschlechtliche Zuschreibungen immer mitgedacht und, soweit möglich, adressiert werden. Geschlechtliche Zuschreibungen meint in diesem Sinne festgeschriebene Rollenvorstellungen für Männer und Frauen sowie ein grundsätzlich binäres Verständnis von Geschlecht. Beides wird von rechten Männern und Frauen gleichermaßen geteilt.

Wie kann geschlechterreflektierende Beratung aussehen?

Es geht nicht darum, Verhaltensweisen oder Bewertungsmuster in der Beratung vorzugeben oder zu trainieren, sondern Alternativen zu eindimensionalen Vorstellungen anzubieten. Ziel ist es, die Handlungsspielräume für die Beratungsnehmenden zu erweitern und neue Erfahrungen möglich zu machen. Hierbei können auch die Berater*innen selbst eine wichtige Rolle einnehmen. Zum Beispiel ist bereits die Berater*innenkonstellation für die Gestaltung der Beratung relevant, denn es ist möglich, bewusst mit ihr zu arbeiten. Damit ist nicht nur die jeweilige Geschlechtsidentität (männlich, weiblich, non-binär etc.) der Berater*innen gemeint, sondern die Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen, die sie zur Verfügung stellen.

Wie in allen pädagogischen Settings ist Ausstiegsarbeit auch professionelle Beziehungsarbeit. Das heißt, wenn eine gute Beziehung besteht und Berater*innen respektiert werden, können sie alternative Geschlechterkonstruktionen anbieten, ohne dass sie direkt dafür abgewertet werden. So kann beispielsweise ein männlicher Berater ein Männlichkeitskonzept zur Verfügung stellen, das Gefühle zulässt und benennt, und dennoch nicht als „schwach“ wahrgenommen wird. Da Ideale von Männlichkeit und Weiblichkeit identitätsstiftend wirken, ist die Frage, wie Selbstbewusstsein über Identifikationsangebote aufgebaut werden kann, die ohne die Abwertung eines konstruierten „Anderen“ auskommen. Diesen Ansatz nehmen wir auch bei der Bearbeitung von anderen Diskriminierungsformen zur Hilfe. Dabei geht es nicht darum, bestimmte Formen von Männlichkeit und Weiblichkeit an sich abzulehnen, sondern herauszufinden, was diese für die oder den Einzelne*n bedeuten und was sie vielleicht darüber hinaus sein können. Dahinter steht immer die Frage, die geschlechterreflektierende Pädagogik grundsätzlich stellt: Wer bin ich als Mensch – und nicht als Mann oder Frau?

Die beschriebene Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit im Kontext Rechtsextremismus wird durch das Projekt „NinA NRW“ in Nordrhein-Westfalen durchgeführt.