Im Verbundprojekt „JUST X Berlin 3.0“ schafft das Anne Frank Zentrum kreative Lernangebote im Rahmen der antisemitismuskritischen Bildung. Zentral ist das biografische Lernen in Workshops zur Geschichte des Nationalsozialismus, des Holocaust und zur Erinnerungskultur. 2025 arbeitet das Anne Frank Zentrum dafür mit Inhaftierten der Jugendstrafanstalt Berlin zusammen – anlässlich des „Anne Frank Tags“ und im Projekt „Stimmen aus Plötzensee“. Ab 2026 öffnet sich das Projekt für weitere Berliner Justizvollzugsanstalten.
Geschichte – ganz nah
„Findet ihr es nicht auch heftig, dass die Gebäude heute weiter als Gefängnis genutzt werden?“, wundert sich ein Workshop-Teilnehmer. Dass die Geschichte des Nationalsozialismus eng mit dem Ort ihrer Haft verknüpft ist, wird Schulklassen der JSA Berlin schon am Namensgeber ihrer Schule bewusst: Helmuth Hübener, der jüngste vom Volksgerichtshof zum Tode Verurteilte, wurde 1942 in Plötzensee hingerichtet. Insgesamt ermordeten die Nationalsozialisten dort über 2.800 Menschen. Teile des damaligen Strafgefängnisses gehören bis heute zur JSA Berlin und zur JVA Plötzensee. Diese räumliche Nähe zur Geschichte adressiert das Anne Frank Zentrum in Workshops: Inhaftierte setzen sich am historischen Ort mit den Biografien Verfolgter auseinander.
Der bundesweite „Anne Frank Tag“ als Aktionstag gegen Antisemitismus erreicht inzwischen bundesweit über 100.000 Schüler*innen – auch in Haftanstalten. Im Sommer 2025 nimmt eine Klasse der Helmuth-Hübener-Schule der JSA Berlin daran teil. In zwei Workshops beschäftigen sich die Jugendlichen zunächst mit der Biografie Anne Franks, um die Geschichte von Antisemitismus und Holocaust kennenzulernen. Anschließend richtet sich der Blick auf die Gegenwart: Gemeinsam mit der Sängerin Kim Seligsohn, Tochter einer Holocaust-Überlebenden, sehen sie ihren Film „Liebe Angst“. Er zeigt, wie die Verfolgungsgeschichte ihre Familie bis heute prägt und thematisiert transgenerationale Traumata. In der anschließenden Diskussion wird deutlich, wie eng Geschichte und Gegenwart verbunden sind. Die anfängliche Skepsis, sich mit Antisemitismus zu beschäftigen, weicht einer großen Offenheit für die Erfahrungen von Kim Seligsohn und ihrer Familie.
Kim Seligsohn gestaltet Erinnerungskultur künstlerisch, etwa mit ihrer gesungenen „Hymne an die Namen“. Sie sagt: „Damit wir einen Umgang mit unserer Vergangenheit finden können, müssen Geschichten weitererzählt und in neue Formen gebracht werden.“ Genau diesen Ansatz verfolgt das Projekt „Stimmen aus Plötzensee“, das sie in der JSA Berlin künstlerisch begleitet.
Wir erzählen weiter
In der Workshop-Reihe „Stimmen aus Plötzensee“ werden Inhaftierte selbst zu Akteuren der Erinnerungskultur. Sie beschäftigen sich mit der Biografie von Max Bindel und erzählen sie in einem Podcast weiter.
Max Bindel wurde 1901 in München in eine jüdische Familie geboren. Seine Ehe mit einer Nichtjüdin machte ihn zur Zielscheibe antisemitischer Diffamierung der Nationalsozialisten.1934 ließ er sich in Berlin taufen. Nachdem er sein Geschäft verlor und ein Ausreiseversuch scheiterte, lebte er im Untergrund. 1941 wurde er verhaftet und im Strafgefängnis Plötzensee inhaftiert. Seitdem gilt er als verschollen. Sein Tod blieb ungeklärt.
Die Teilnehmenden erzählen seine Biografie mit eigenen Worten und setzen sich dabei auch mit ihrem eigenen Gefangensein am gleichen Ort auseinander. Unter künstlerischer Begleitung von Kim Seligsohn vertonen die jungen Inhaftierten Max Bindels Geschichte und seine aus der Haft erhaltenen Gedichte und Zeichnungen. Die Audioaufnahmen werden von der anstaltsinternen Podcast-Gruppe umgesetzt. Ihr Format „Zweidrittel FM“ wird direkt in der JSA produziert.
Ein besonderer Moment ist die Begegnung mit Max Bindels Tochter Irene. 1938 in Berlin geboren, kehrt sie für das Projekt an den Ort zurück, an dem sie ihren Vater als Kind das letzte Mal sah. In der Gefängniskirche der JVA Plötzensee liest sie Inhaftierten und Gästen aus ihrem Buch „Wassermilch und Spitzenwein“ vor. Später begegnen ihr die Teilnehmenden im Podcast-Studio der JSA zu einem Interview. Im direkten Austausch mit der Tochter des Mannes, dessen Biografie sie hörbar machen, erleben die Jugendlichen, wie sehr sie ihr Engagement wertschätzt – und warum es so wichtig ist, die Geschichte der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz weiterzuerzählen.
Die Sonderfolge aus dem Projekt „Stimmen aus Plötzensee“ ist online unter „Zweidrittel FM“ sowie für Inhaftierte über die E-Learning-Plattform elis abrufbar.
Die beschriebene Maßnahme wird umgesetzt im Projekt „JUST X Berlin“, einem Verbundprojekt von Violence Prevention Network gGmbH, Denkzeit-Gesellschaft e. V. und Anne Frank Zentrum. Violence Prevention Network bietet Workshops der politischen Bildung, Einzelfallberatungen und Fortbildungen für Fachkräfte zur Prävention und Deradikalisierung im Strafvollzug an. Denkzeit-Gesellschaft führt „Blickwechsel“-Trainings durch und qualifiziert Fachkräfte der Justizvollzugsanstalten rund um die Themen Entwicklungspsychologie und Psychodynamisch Interaktionelle Pädagogik.