Praxiseinblicke
Zielgruppe: Inhaftierte

Sportbetonte Angebote der politischen Bildung

Der Ablauf ist bewährt. Gestartet wird im Seminarraum, geendet in der Turnhalle. Am Vormittag wurden im Rahmen des Seminars die Vorhaben und Zielstellungen dieses Projekttages formuliert und um einen Ausblick auf die nachmittägliche Sporteinheit ergänzt. Nach bis zu drei Stunden Seminarzeit begleiten die im Projekt tätigen Pädagoginnen die Gruppe aus ihrer Seminareinheit. Im Anschluss erfolgt der Mittagseinschluss für die Inhaftierten. Darauf folgt der begleitete Wechsel vom Hafthaus in die Turnhalle. Es finden Gespräche statt. Im Mittelpunkt stehen hier nicht nur das Mittagessen, sondern auch die Themen aus dem Seminarraum. Sie wirken nach. Die Teilnehmer suchen Bewertungen für die Übungen, hinterfragen im Gespräch mit der Seminarleitung deren Sinn und Zweck und finden Formulierungen für ihre teilweise diffusen Gedanken. Mit Betreten der Turnhalle werden Wasserflaschen abgelegt und die Schuhe gewechselt. Die Männer spielen sich warm.

Der Trainer der heutigen Projekteinheit ist erfolgreicher Leistungssportler im Rollstuhlbasketball, vierfacher Paralympics-Teilnehmer und Profitrainer. Nach kurzen sportlichen Interaktionen trifft sich die Gruppe im Kreis und wird durch die Seminarleitung in die zweistündige Sporteinheit eingeführt, wobei der Trainer als Leitung der sportlichen Einheit benannt wird. Mit motivierender Stimme stellt er sich der Gruppe vor und benennt Trainingsziele und Spielregeln. Die inhaftierten Männer erhalten heute seine sportlichen Anweisungen. An der Wand lehnen noch immer zehn Sportrollstühle, die Teilnehmer dürfen sich diese technisch einrichten.

Nach einem ersten Spiel sind die Hände bereits vom Reifengummi gefärbt. Einigen Teilnehmern brennen die Oberarme von der ungewohnten Anstrengung. Die sportliche Pause wird für Fragen an den Trainer genutzt. Wie das so ist, wird gefragt, dieses Leben, in dem man sich vielleicht einmal mehr erklären muss. Und wie man damit umgeht, wenn Menschen überwiegend von oben zu einem sprechen, weil man selbst sitzt. Es wird gefragt, ob es einfach ist, eine Wohnung zu finden und ob der Lohn als Leistungssportler bei den Paralympics vergleichbar ist mit dem anderer Sportarten. War es ein Unfall oder eine Krankheit? Der Blick wird auch auf die Sprache gelenkt, es wird sensibilisiert und der Ausspruch „Bist du behindert?“ wird neu wahrgenommen. Die Gruppe hört dem Trainer zu und diskutiert über die neue Perspektive: Es geht nicht um ein Behindert-Sein, sondern um ein Be- und Gehindert-Werden. Dimensionen um Ausgrenzung, um Marginalisierung, um Normzustände und hiernach bemessenen Bewertungen bekommen Raum in dieser Sporteinheit.

Sport zur Förderung von kognitiven Prozessen und Fairplay

Einige Teilnehmer setzen das Training fort, andere gehen ins Gespräch mit den Pädagoginnen. Hier braucht es die Vertiefung der Seminarthemen. Manch Angesprochenes hat einen Inhaftierten provoziert, es geht um seine Weltanschauung. Im Einzelgespräch lassen sich die mitunter tief verwurzelten Glaubenssätze besprechen. Auch kritische Aussagen aus dem Seminar werden hier geprüft.

In der Gruppe sind solche Gespräche oftmals wegen der hohen emotionalen Anspannung nicht möglich. Der sportliche Dialog aber lässt es zu, diese Aussagen zu dekonstruieren und sie in Bezug zu den eigenen Bedürfnissen zu setzen. Es wird der Frage nachgegangen, woher all das Wissen kommt. Vorurteile und Ressentiments können sichtbar und bearbeitet werden. Genau das braucht es, damit die Seminarinhalte nicht ins Leere laufen. Die Teilnehmenden müssen andocken und einen Bezug zu den Themen schaffen können: Was hat das alles mit mir zu tun?

Es klingt komplex und sollte mit Blick auf die Teilnehmenden nicht unterschätzt werden: das Aushalten vom Sitzen im Stuhlkreis, das Einlassen auf ein gesellschaftspolitisches Thema, das Kratzen an der eigenen Identität und das Infragestellen eigener Überzeugungen ebenso wie das Demaskieren eigener Grundwerte. Die im Seminar vertretenen (auch politischen) Meinungen sind reichhaltig und stark. Auch die Arbeit an Biografien ist anspruchsvoll.

Sport als Reflexions- und Regulierungsraum

Zwei Stunden Sport bedeuten in Haft Freizeit. Für das Projekt bedeuten sie einen Setting-Wechsel von sozialpädagogischer Gruppenarbeit hin zu abseits des Spielfeldrands geführter Einzelarbeit. Um möglichst viele Impulse zu setzen, wechselt sich Rollstuhlbasketball mit anderen Sportarten ab. Die Leistungssportler, (Nachwuchs-)Trainer des Leistungssports sowie die vom Deutschen Fußballbund lizenzierten Trainer*innen teilen mit der Zielgruppe nicht nur ihre Erfahrungen, sondern agieren im Fokus sozialer Kompetenzförderung und -reifung. Letztere wird als Querschnittsaufgabe verstanden, da ihr mit Blick auf den Auftrag Extremismusprävention und Deradikalisierung eine wesentliche Rolle zukommt.

Die vielfältigen Trainingsvarianten um Koordinations- und Achtsamkeitsübungen schaffen einen temporären Abstand zu Seminarthemen und Gefühlsregungen. Die im Seminar erlebten Emotionen finden in sportlichen Übungen ein Ventil. Das Seminar-Setting wird unterbrochen, die Gruppe erfährt neue Impulse und Gedanken können sich entfalten. Hierin liegen Chancen, um individuelle Emotionslagen wahrzunehmen oder um thematische Unsicherheiten zu klären. Sport als Reflexions- und Regulierungsraum bringt Abstand zu destruktiven Gefühlen, lässt sie aus der Distanz heraus beobachten und in Beziehung zu Bedürfnissen setzen. Die Teilnehmenden finden dadurch die Kontrolle über Impulse, was ihr Verhalten in Gruppensituationen positiv beeinflusst. Sport stärkt die Kooperationsbereitschaft und hilft bei der Bearbeitung von Spannungslagen. Die Logik des Projekts verbindet Dimensionen der Selbsterfahrung, Eigenaktivität sowie Wissensaneignung und ermöglicht eine ausgewogene Seminarstruktur unter Einbeziehung der Lebenswelten. Die Verbindung von Bildungsseminar und Sport erlaubt das Fokussieren sowohl kognitiver und affektiver als auch sozialer Lernziele. Hier liegt zudem die Stärke, die Zielgruppe zur eigenmotivierten Teilnahme anzuregen und sie für demokratiefördernde Themen zu interessieren.

Das beschriebene Projekt „Blickpunkt: Extremismusprävention in Strafvollzug und Bewährungshilfe“ wird von UNITYED e. V. in Thüringen durchgeführt.

 

Träger

UNITYED e. V.

Kalkreiße 6
99085 Erfurt

www.unityed.de

www.community-festival.com

Mehrere Inhaftierte spielen Rollstuhlbasketball auf dem Sportplatz im Gefängnis
(c) UnityEd e. V.